Es werden einige Passagen aus Milanis Publikation “Briefe an eine Lehrerin” vorgestellt, die den Gedanken der Inklusion in den Mittelpunkt stellen, gefolgt von Reflexionsfragen.
Lorenzo Carlo Domenico Milani Comparetti (27. Mai 1923 – 26. Juni 1967) war ein italienischer katholischer Priester. Er war Erzieher armer Kinder und Verfechter der Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen.
Ein Jahr lang koordinierte Milani mit seinen Schülern die Produktion des Briefes an eine Lehrerin (Lettera a una professoressa), der die Ungleichheiten eines auf Klassen basierenden Bildungssystems anprangert, das die Kinder der Reichen gegenüber den Kindern der Armen bevorzugt.
Obwohl seit seinem Tod mehr als fünfzig Jahre vergangen sind, sind die pädagogischen Ideen von Don Lorenzo Milani und die Erfahrungen der Schule Barbiana heute wie damals von großer Relevanz und pädagogischem Wert. Don Milani glaubte an das Projekt einer offenen und inklusiven Schule, die “durch die Verbindung des Wissens mit dem Lebensprojekt jedes Einzelnen” die Entwicklung aller Intelligenzen fördert, auch die der kulturell und sozial Benachteiligten.
“Wenn man die schwierigsten Kinder verliert, ist die Schule keine Schule mehr. Sie ist ein Krankenhaus, das die Gesunden heilt und die Kranken aussortiert.”
Das sagte Don Lorenzo Milani. Er war ein unbequemer Priester, ein Mann, der sich einer scharfen, aber präzisen Sprache bediente und gerade deshalb viel Zustimmung oder heftige Ablehnung erfuhr.
Für Don Milani war die Schule ein Mittel, um allen Menschen, vor allem den Armen, die kulturellen Werkzeuge in die Hand zu geben, um sie freier und gleicher zu machen. In der Schule von Barbiana versammelte er alle, ohne Unterschied, und durch diese Kinder lernte der erziehende Priester die vielen Probleme der realen Welt seiner Zeit kennen.
Er, der aus einer wohlhabenden Familie stammte, setzte sich dafür ein, dass die jungen Menschen ihre Zukunft selbst in die Hand nahmen, indem er sie zu kritischem Denken anregte und sie lehrte, selbst zu denken.
Von der Barbiana-Schule geht eine Botschaft aus, die heute mehr denn je gilt und keineswegs rhetorisch ist: Die Kultur macht die Menschen in ihrem Wissenspotenzial gleich, sie verleiht ihnen Würde. Kulturelle Gleichheit ist ein notwendiges Mittel, um ein sich wiederholendes Leben ohne Schwung und Begeisterung zu überwinden. Die Freude am Wissen befreit.
Die Schule von Don Milani war eine offene, lebendige, anregende Schule, gewiss keine einfache. Man lernte. Man engagierte sich, denn Lernen ist ein Opfer. Man experimentierte.
So entwickelten sich in Barbiana Autonomie und kritisches Denken, man erwarb Wissen und Fähigkeiten, und heute können wir sagen, dass die Didaktik der Kompetenz verwirklicht wurde: Wissen und Können.
“I care”, ich kümmere mich um dich, du liegst mir am Herzen, ich interessiere mich für dich als Person, ich interessiere mich für deine Emotionen, ich baue eine Beziehung zu dir auf, denn daraus entsteht Lernen, und zwar ein aktives und stimulierendes Lernen.
Darum geht es bei Inklusion heute, in den Schulen wird nur noch darüber geredet. Wenn man die Websites der verschiedenen Bildungseinrichtungen von Nord bis Süd durchstöbert, liest man Abhandlungen über schulische Inklusion, weitreichende Projekte, oft selbstreferentiell und in einer Sprache, die nicht immer verständlich ist.
Wenn Inklusion bedeutet, die Bedürfnisse aller zu respektieren, indem das schulische Umfeld und das Lernen so gestaltet und organisiert werden, dass alle aktiv am Klassenleben teilnehmen können und jeder Schüler die Möglichkeit hat, sich entsprechend seiner Potenziale zu entwickeln, dann wird Inklusion gefördert. Ist das in unseren Schulen der Fall?
Don Milani sagte: ‘Nichts ist ungerechter, als ungleiche Teile gleich zu machen’. Wenn wir uns heute auf seine pädagogische Botschaft besinnen, dann bedeutet das zweifellos, dass wir Inklusion jeden Tag in den kleinen Dingen des Schulalltags voll verwirklichen. Heute fallen die sozial und kulturell Benachteiligten in die Kategorie Bes (besonderer pädagogischer Bedarf), aber ich glaube, dass jeder Schüler einen besonderen pädagogischen Bedarf hat, weil er oder sie Aufmerksamkeit, Anregung und manchmal Unterstützung braucht.
Der Ansatz des Lehrers muss sich ändern: Er sollte sich nicht nur mit der Definition des Schülers mit sonderpädagogischem Förderbedarf beschäftigen, sondern sich auch über das Ziel der Sonderpädagogik im Klaren sein und dementsprechend jeden Schüler im Hinblick auf sein Ausgangsniveau und die erreichten Ziele einschätzen und die richtige Antwort im Verhältnis zu den Schwierigkeiten und Bedingungen geben.
Sicherlich ist dies ein schwieriger Weg, der von den Pädagogen Engagement und Kompetenz verlangt, aber gerade darin liegt die Schönheit und Einzigartigkeit des Lehrerberufs, der sich vom Wissensvermittler zum Kulturschaffenden wandelt und als solcher von der Gesellschaft anerkannt wird.
Dies erfordert natürlich eine solide spezifische Vorbereitung, ständige Weiterbildung und ein hohes Maß an Planungsautonomie, die in den heutigen Schulen nicht immer gegeben ist.
Eine aufmerksame Lektüre des Buches ‘Brief an einen Lehrer’, das der Pfarrer von Barbiana geschrieben hat, wäre sicher hilfreich.
Auf den folgenden Seiten bieten wir Auszüge aus dem “Brief an eine Lehrerin”, denen Impulsfragen vorangestellt sind, die Lehr- und pädagogische Fachkräfte allgemein anregen sollen, über Fragen der Inklusion anhand dieses zeitlosen Werkes nachzudenken.
Auszüge aus: Briefe an eine Lehrerin
Quelle
Die Schule von Barbiana (2023). Brief an eine Lehrerin. Übersetzung von Alexander Langer. Mit Texten von Lorenzo Milani. Hrsg. v. S. Langer. Alpha&Beta: Meran.
Impulsfragen
Die Schule von Barbiana hat Praktiken vorweggenommen, die heute im Bildungswesen fest verankert sind: Variation und Flexibilität bei der Anordnung der Tische im Klassenzimmer, Peer-Tutoring, gemeinsame Nutzung von Büchern. Wie wichtig sind diese Maßnahmen Ihrer Meinung nach für die Verwirklichung einer wirklich inklusiven Schule?
die Tische
Barbiana schien mir, als ich ankam, gar keine Schule Kein Katheder, keine Tafel, keine Schulbänke. Nur große Tische, um die herum Schule gehalten und gegessen wurde.
Von jedem Buch gab es nur ein Exemplar: Die Jungen drängten sich darüber. Man merkte kaum, das seiner etwas größer war und unterrichtete.
Der älteste jeder Lehrer war sechzehn Jahre alt. Der jüngste zwölf, und ich war voll Bewunderung für ihn. Vom ersten Tag an beschloß ich, dass auch einmal unterrichten würde.
vorgezogen
Das Leben war auch dort oben hart. Disziplin und Szenen, die einem schon die Lust zum Wiederkommen nehmen konnten.
Wem aber die Grundlagen fehlten und wer langsam oder faul war, der fühlte sich vorgezogen. Er wurde aufgenommen,, wie Ihr den Klassenersten aufnehmt. Es war, als ob die Schule ganz für ihn da wäre. Solange er nicht verstanden hatte, gingen auch die anderen nicht weiter.
die Erholungspausen
Es gab keine Erholungspause. Nich einmal sonntags war schulfrei. Niemandem von uns bereitete das große Sorge denn arbeiten ist schlimmer. […]
p. 42
Don Milani sieht in der Sprache einen Schlüsselfaktor für die Verwirklichung von Inklusion, sie kann aber auch eine diskriminierende und ausschließende Rolle spielen, wenn sie als Machtinstrument der Reichen gegen die Armen eingesetzt wird. Wann kommt es Ihrer Meinung nach in der heutigen Welt zu Diskriminierung oder Ausgrenzung durch Sprache?
ohne Unterschied der Sprache
Übrigens müsste man sich erst einigen, was man unter korrekter Sprache versteht. Die Sprachen werden von den Armen geschaffen, die sie dann immer wieder weiterbilden und erneuern. Die Reichen hingegen legen sie fest, um jene verspotten zu können, die nicht so sprechen wie sie. Oder um sie durchfallen zu lassen.
Ihr sagt, dass Pierino, der Sohn des Doktors, gut schreibt. Klar, er spricht wie Ihr. Er gehört gewissermaßen zur Firma. Die Sprache aber, die Gianni spricht und schreibt, ist jene seines Vaters. Als Gianni klein war, nannte er das Radio “lalla”. Und der Vater meinte, ernsthaft: “Man sagt nicht ‘lalla’, man sagt der ‘aradio’.
Nun mag es gut sein, dass Gianni auch lernt, Radio zu sagen. Eure Sprache könnte ihm nützlich sein. Aber inzwischen. Könnt Ihr ihn nicht aus der Schule vertreiben.
“Alle Bürger sind gleich, ohne Unterschied der Sprache.” So hat es die Verfassung bestimmt und dabei an ihn gedacht”.
folgsamer Hampelmann
Aber Ihr schätzt die Grammatik mehr als die Verfassung. Und so ist Gianni auch nicht mehr zu uns zurückgekehrt.
Wir können uns damit nicht abfinden. Wir beobachten ihn von Weitem. Wir haben erfahren, dass er nicht mehr zur Kirche geht und auch nicht zur Sektion irgendeiner Partei. Er geht in die Werkstatt und macht dort sauber. In der freien Stunden folgt er der Mode wie ein gefügiger Hampelmann. Samstag zum Tanz, Sonntag ins Sportstadion.
Ihr wisst von ihm nicht einmal. Dass er existiert.
Der Satz “ aber wenn man sie [die schwierigen Kinder] verliert, ist die Schule ja keine Schule mehr. Dann ist sie ein Krankenhaus, das die Gesunden pflegt und die Kranken abweist” hatte ein großes Erfolg in der Don Milani-Rezeption. Es ist eine Mahnung, sich um die wirklich Bedürftigen zu kümmern und für die Beseitigung von Hindernissen zu kämpfen. Dieses Prinzip ist in Artikel 3 der italienischen Verfassung verankert. In welchen Artikeln der Verfassung Ihres Landes werden ähnliche Prinzipien bekräftigt?
Das Krankenkaus
So war unsere erste Begegnung mit Euch. Durch die Jungen, die Ihr nicht wollt. Auch wir haben es bemerkt, dass mit ihnen die Schule schwieriger. Manchmal kommt einen die Versuchung an, sie sich vom Halse zu schaffen. Aber wenn man sie verliert, ist die Schule ja keine Schule mehr. Dann ist sie ein Krankenhaus, das die Gesunden pflegt und die Kranken abweist. Sie wird zu einem Werkzeug, das immer unheibarere Unterschiede schafft.
Und Ihr fühlt Euch berufen, diese Rolle in der Welt zu spielen? Dann ruft sie doch zurück, gebt nicht nach, beginnt wie der von vorn, viele Male, mag man Euch auch für verrückt halten.
Lieber für verrückt gehalten werden als ein Werkzeug der Rassendiskriminierung sein.(. S. 49-50)
Durch Geburt verschieden? (S. 93)
Schwachköpfe und Faulenzen
Ihr sagt, Ihr habt die Schwachköpfe und Faulenzer durchfallen lassen.
Ihr behauptet also, Gott lässt die Schwachköpfe und Faulenzen in den Häusern der Armen zur Welt kommen. Gott aber spielt den Armen nicht solche Streiche. Eher spielt Ihr sie ihnen.
Rassenschutz
In der Verfassunggebenden Versammlung war es ein Faschist, der die Ansicht der Unterschiede von Geburt an vertrat: “Der Abgeordnete Mastroianni bemerkt bezüglich des Wortes ‘Pflichtschule’, dass es Schüler gibt, die eine organische Unfähigkeit aufweisen, Schulen zu besuchen.”
Auch ein Mittelschuldirektor hat geschrieben: “Die Verfassung kann leider nicht allen Kindern gleiche verstandensmäßige Entwicklung und gleiche Eignung zum Lernen gewährleisten.
Von seinem Sohn aber würde er das niemals sagen. Wird er ihn etwa nicht die Mittelschule abschließen lassen? Wird er ihn zur Feldarbeit schicken? Man hat mir gesagt, dass solche Dinge in Maos China vorkommen. Aber ob das wahr ist?
Auch die reichen Leute haben ihre schwierigen Kinder. Aber sie bringen sie vorwärts.
Die Kinder der anderen
Nur die Kinder der anderen scheinen manchmal Schwachköpfe zu sein. Die eigenen nicht. Ist man ihnen nahe, dann merkt man, dass sie es nicht sind. Und nicht einmal Faulenzer. Oder wir spüren zumindest, dass es wohl nu rein Augenblick ist, dass er vorübergehen wird, dass es ein Mittel dagegen geben muss. Dann ist es aber ehrlicher zu sagen, dass alle Kinder gleich geboren werden, und wenn sie später nicht mehr gleich sind, ist da unsere Schuld und wir müssen etwas dagegen tun.
Hindernisse beheben
Genau das sagt die Verfassung, wenn sie von Gianni spricht: “Alle Bürger sind gleich vor dem Gesetz, ohne Unterschied der Rasse, der Sprache, der persönlichen und sozialen Lage. Es ist die Aufgabe der Republik, die Hindernisse wirtschaftlicher und sozialer Art zu beheben, die in der Tat die Freiheit und Gleichheit der Bürger beschränken und dadurch die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und die tatsächliche Teilnahme aller Arbeitenden an der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gestaltung des Landes behindern.” (Artikel 3).
Die Herrschenden (S. 104)
Gibt es ihn?
Wir haben öfters von den Herrschenden oder dem Herrschenden gesprochen, der Euch in der Hand hat. Von jemandem, der die Schule nach Eurem Maß zugeschnitten hat.
Gibt es ihn? Ist das etwa eine kleine Gruppe von Leuten rund um einen Tisch, bei denen alle Fäden zusammenlaufen: Banken, Industriebetriebe, Parteien, Presse, Mode?
Wir wissen es nicht. Wir merken, dass sich unser Schreiben fast wie ein Roman anhört, wenn man so etwas sagt. Es nicht zu sagen, hieße aber einfältig sein. Das wäre so, wie wenn man die Ansicht verträte, dass viele Rädchen rein zufällig zusammengekommen sind. Das daraus ein Panzer geworden istt, der ganz von selbst Krieg führt, ohne dass ihn jemand lenkt.
Don Milani und seine Schule legen großen Wert auf die Zusammenarbeit zwischen den Schüler:innen, eine Zusammenarbeit, bei der jeder eine aktive Rolle spielt und die mit einer gut durchdachten Technik umgesetzt wird. Inwieweit nutzen Sie eine bis ins Detail geplante und inklusionsorientiertet Zusammenarbeit zwischen den Schüler:innen/Mitgliedern Ihrer Institution?
eine bescheidene Technik
Wir also machen es so:
Vor allem hält jeder von uns einen Notizblock in der Tasche. Jedesmal, wenn ihm eine Idee kommt, schrebt er sie auf. Jede Idee auf einem eigenem Zettel, der nur auf einer Seite beschrieben ist.
Eines Tages legt man alle Zettelchen zusammen auf einen großen Tisch. Man geht sie einzeln durch, um die doppelten wegzuwerfen. Man geht sie einzeln durch, um die doppelten wegzuwerfen. Dann werden die verwandten Zettelchen zu großen Haufen vereinigt, das sind die Kapitel. Jedes Kapitel wird in Häufchen unterteilt, das sind die Abschnitte.
Nun versucht man, jedem Abschnitt einen Namen zu geben. Wenn das nicht gelingt, bedeutet es, dass er nichts enthält oder dass er zu viel enthält. Mancher Abschnitt verschwindet, mancher verwandelt sich in zwei.
Mit den Namen der Abschnitte wird die logische Anordnung besprochen, bis eine allgemeine Einteilung daraus wird. Anhand dieser allgemeinen Einteilung werden die Abschnitte neu geordnet.
Man nimmt das erste Häufchen, breitet am Tisch sein Zetttelchen aus und findet so die Reihenfolge heraus. Nun schreibt man den Text nieder, wie er gerade kommt.
Er wird hektografiert, damit alle das Gleiche vor sich haben. Dann geht es mit Schere, Klebstoff und Farbstiftten dran. Alles wird drunter und drüber geworfen. Neue Zettel. Kommen hinzu. Es wird nochmal hektografiert.
Dann beginnt die Jagd darum, wer Worte entdeckt, die man weglassen kann, überflüssige Eigenschaftswörter, Wiederholungen, falsche Behauptungen, schwierige Wörter, zu lange Sätze, zwei Begriffe in einem einzigen Satz.
Man ruft einen Außenstehenden nach dem andern. Man achtet darauf, ob sie verstanden haben, was wir sagen wollten. Man nimmt ihre Ratschläge an, wenn sie nur der Klarheit dienen. Mahnungen zur Vorsicht werden abgewiesen.
Nicht all dieser Mühe, bei der wir Regeln befolgen, die für alle gelten, findet sich immer noch der idiotische Intellektuelle, der von sich gibt: “Dieser Brief hat einen hïchst persönlicher Stil”.
Faulheit
Gebt lieber zu, dass Ihr nicht wisst, was die Kunst ist. Die Kunst ist das Gegenteil von Faulheit.
Auch Sie beschweren Sie sich nicht, dass Sie nicht genügend Unterrichtsstunden haben, Es genügt eine schriftliche Arbeit im ganzen Jahr, aber diese mit allen gemeinsam erarbeitet.
Weil wir schon von Faulheit sprechen. Ich schlage Ihnen für ihre Schüler eine unterhaltsame Übung vor. Verwendet ein Jahr darauf, den Saitta ins Italienische zu übersetzen.